2
dunkler. Da weinte das Kind und betete zum lieben Gott das
Gebetchen, welches es von seiner Mutter gelernt hatte. Und
alsbald sah es einen Hellen Stern über dem Walde aufgehen,
wo der Vater Herkommen mußte; und es sprach: „Ach schöner
Stern, leuchte doch meinem Vater, daß er den Weg' nach Hause
finde." Und der Stern leuchtete immer heller und kam immer
näher, und bald hörte das Kind seines Vaters Stimme und lief
ihm entgegen und küßte ihn.
3. Großmütterchen.
Groß Mütterchen sitzt im Lehnstuhl gebückt,
im Schoß gefaltet die Hände;
man sieht, daß der Jahre Last sie drückt,
sie denkt wohl ans Lebensende.
Der Schnee des Alters, das weiße Haar,
umrahmet Stirn und Wangen;
es sind ja mehr als siebenzig Jahr
darüb er hinweg g eg ang cn.
Das Auge, das sonst in lichtem Glanz
nur Lust und Freude verkündet,
ist jetzt umnachtet mtb fast ganz
seit Jahren schon erblindet.
Das Herz jedoch, das im Busen sie trügt,
das Herz ist dasselbe geblieben,
mit gleicher Wärme, wie sonst, es schlägt
für alle seine Lieben.
Es zieht mich hin, zu Füßen ihr
tnuß ich mich niederknieen,
mit Küssen bedecken die Hand, die mir
so unendlich viel Gutes verliehen.
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38
„Leutchen! ei, es wundert mich,
daß ihr nicht gehorchet
und nicht jedem dankbar seid,
welcher für euch sorget.
Unsrer lieben Königin
folgen wir mit Freuden,
und wer sie verletzen will,
hat mit uns zu streiten."
59. Die Biene und die Taube.
(Michaelis.)
Ein Bienchen fiel in einen Bach;
das sah von oben eine Taube
und warf ein Blättchen von der Laube
ihr zu. Das Bienchen schwamm darnach
und half sich glücklich aus dem Bach.
Am andern Tag saß unsre Taube
in Frieden wieder auf der Laube.
Ein Jäger hatte schon den Hahn auf sie gespannt.
Mein Bienchen kam; piek! stach's ihn in die Hand;
puff! ging sogleich der Schuß daneben.
Die Taube flog davon. — Wem dankte sie ihr Leben?
60. Der Käfer.
(Dinter.)
Ein kleiner Küfer schwirrte
vergnügt ums Bäumchen her;
allein im Garten irrte
ein wilder Bub' umher.
Er fing das arme Tierchen
und packt's bei seinem Bein
und bindet's an ein Schnürchen,
das arme Küferlein.
76
126. Der lügenhafte Hirtenknabe.
(O. Schulz nach Schmid.)
Ein Hirtenknabe hatte sich das Lügen angewöhnt und meinte,
im Scherz dürfe man schon lügen. Oft rief er mit ängstlicher
Stimme: Ein Wolf! ein Wolf! Wenn dann die andern Hirten
zusammenliefen, lachte er sie aus, daß sie so leichtgläubig wären.
Eines Tages fiel wirklich ein Wolf in die Herde des Knaben
ein. Da rief er wie -sonst: Ein Wolf! ein Wolf! Aber die
Hirten dachten: Dich kennen wir schon! Darum eilte auch keiner
zu Hilfe, und der Wolf würgte ungestört in der Herde des
Knaben. Als der Knabe nachher darüber klagte, mußte er das
Sprüchlein hören:
Einem Lügner glaubt man nicht,
wenn er auch die Wahrheit spricht.
127. Ich mag nicht lügen.
(Schlez.)
Einem Knaben hatte jemand ein kleines Beil zum Spielen
gegeben. Daran hatte er seine große Freude und hieb damit,
wie es eben traf, und es traf manchmal hin, wo es nicht gut
war. Wie der Kleine mit dem Beile auf der Schulter auch in
den Garten kam, dachte er: „Nun will ich ein tüchtiger Holz-
hauer sein," und fing an und hieb seines Vaters schönstes Nuß-
bäumchen um.
Den andern Tag kam der Vater in den Garten, und als
er das schöne Bäumchen welk am Boden liegen sah, wurde er
betrübt und zornig. „Wer mir das gethan hat," rief er, „der
soll mir's schwer büßen!" Aber wer es gethan hatte, das wußte
kein Mensch außer einem; der stand gerade hinter der Hecke,
hörte, wie der Vater so zürnte, und wurde feuerrot. Es ist
schlimm! dachte er; aber wenn ich's verschwiege, so wär's eine
Lüge, und lügen mag ich nicht. So trat er denn schnell in den
Garten zum Vater und sagte: „Vater! ich habe das Bäumchen
umgehauen; es war dumm von mir." — Da sah der Vater
den Knaben an, und er machte wohl noch ein ernsthaftes Ge-
sicht; — aber er zürnte nicht mehr.
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77
Der kleine Knabe lebte in Amerika und wurde nachher ein
braver Mensch und dazu ein gewaltiger General, hat auch sein
Leben lang die Lüge gehaßt. Er hieß Georg Washington.
128. Fritz Ob erlin.
(Rothert.)
Fritz Oberlin, der zwölfjährige Sohn eines wackern Pro-
fessors in Straßburg, ging eines Tages über den Markt. Da
sah er, wie einige ungezogene Knaben einem Bauernweib ihren
Korb mit Eiern vom Kopfe stießen. Das Weib war trostlos.
Fritz sieht die Buben mit einem durchbohrenden, strafenden Blick
an, schilt ihre Unart mit dem ihm eigenen Mute tüchtig aus
und tröstet das weinende Weib. Dann bittet er sie, etwas zu
warten, inib läuft spornstreichs nach Hause zu seiner Sparbüchse,
die, wie er weiß, voll ist. Im Fluge kommt er zurück, schüttet
den ganzen Inhalt der Sparbüchse in die Schürze der über-
raschten Bäuerin aus und ist auch sogleich wieder fort, ohne
ihren Dank abzuwarten.
Ein andermal kam er auf dem Markte zu Straßburg an
der Bude einer Kleinhändlerin vorbei. Er sah, wie eine alte,
arme Frau vergeblich bemüht war, von dem Preise eines Klei-
dungsstücks, das sie notwendig brauchte, etwas abzuhandeln. Der
Alten fehlten noch einige Pfennige an der kleinen Summe, von
welcher die Trödlerin nicht abgehen kann und will. Mehr aber
hat nun einmal jene nicht, als sie bietet. Traurig geht sie wei-
ter. Da springt Fritz zu der Trödlerin hin, drückt ihr das noch
fehlende Geld in die Hand und sagt leise zu ihr: Rufet jetzt
die arme Frau zurück und lasset ihr den Rock! Darauf läuft er
davon.
129. Der Schmied.
(Curtman.)
Neben dem Hause meiner Eltern wohnte ein alter Schmied,
ein gar guter Mann, obgleich er schwarz im Gesicht aussah, so
daß manche Kinder sich vor ihm fürchteten. Ich fürchtete mich
aber nicht, sondern ging alle Tage zu ihm und sah ihm zu, wie
er in seiner Werkstatt arbeitete. Da zog er einen großen Blas-
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Extrahierte Personennamen: Georg_Washington Fritz Rothert Fritz_Oberlin Fritz Fritz
81
132. Dic Milch.
(Schmid.)
Ferdinand, ein reicher Knabe aus der Stadt, spazierte an
einem Frühlingstage auf einen benachbarten Bauernhof, ließ sich
für sein Geld eine Schüssel Milch geben, setzte sich unter einem
schattigen Baum in das Gras, brockte Brot in die Milch und
aß nach Herzenslust.
Friedrich, eiu armer Knabe aus dem nächsten Dorfe, der vor
Hunger und Elend sehr mager und blaß aussah, stand nicht weit
von ihm, sah traurig zu und hätte gern auch etwas davon ge-
habt; allein er war zu bescheiden, darum zu bitten.
Dem reichen Ferdinand fiel es wohl ein, er solle dem armen
Knaben etwas übrig lassen; er gab aber dieser guten Regung seines
Herzens kein Gehör und aß begierig fort. Als er nun bereits
die Milch aufgezehrt hatte, erblickte er auf dem Boden der irdenen
Schüssel einen Reim. Er las ihn mit Erröten, ließ sogleich die
Schüssel noch einmal füllen und sich ein großes Stück Brot dazu
geben. Dann rief er den armen Friedrich freundlich herbei, brockte
ihm das Brot selbst ein und sprach ihm liebreich zu, es sich wohl
schmecken zu lassen.
„Den Spruch," sagte Ferdinand, „der in der Schüssel steht,
sollte man in alle Schüsseln vermögender Leute schreiben." Der
Spruch aber lautet so:
Der du des Armen kannst vergessen,
verdienest nicht, dich satt zu essen.
133. Der gerettete Handwerksbursche.
(Schubert.)
Ein Handwerksbursche ging einst in der grimmigsten Kälte
mit seinem Bündel über die Heide. Seine Kleider waren dünn
und seine Schuhe zerrissen. Ach, da fror's ihn sehr! Er weinte,
und die hellen Zähren froren ihm an die Augenwimpern. „Lie-
der Gott," seufzte er, „weit und breit kein Dorf und keine Stadt
und keine Köhlerhütte! Ich werde erfrieren! Ach, wie wird meine
Mutter jammern! Mein Vater ist gestorben, und nun hat sie
niemand, der ihr Brot erwirbt." Er wollte laufen, aber seine
Gabriel u. Suppriau, Lesebuch. D. i. 6
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Extrahierte Personennamen: Schmid Ferdinand Ferdinand Friedrich Friedrich Ferdinand Friedrich Friedrich Ferdinand Ferdinand Schubert Gabriel
1. Die Familie.
(O. Schulz.)
Ich habe einen Vater und eine Mutter, die nenne ich meine
Eltern. Meine Eltern geben mir Nahrung und sorgen für alles,
was mir fehlt. Sie haben mich lieb. Darum liebe ich sie wieder
und thue, was sie mir befehlen. Kinder müssen ihren Eltern
gehorsam sein. Ungehorsamen Kindern geht es niemals wohl.
Meine Eltern haben noch mehrere Kinder, die sind meine Brüder
und meine Schwestern. Ich habe meine Briider und Schwestern
lieb. Geschwister müssen sich lieben und nicht mit einander
zanken.
Wir haben auch Leute zur Bedienung und zur Hausarbeit,
die nennen wir das Gesinde. Das Gesinde muß treu, fleißig,
folgsam und bescheiden sein; dafür empfängt es von der Herrschaft
Brot und Lohn; die Herrschaft aber muß gegen das Gesinde freund-
lich sein und ihm seinen Lohn zu rechter Zeit auszahlen.
2. Die Rückkehr des Vaters.
(Curtman.)
Ein Kind stand am Fenster und blickte hinaus, ob sein
Vater noch nicht käme. Es war schon Abend und beinahe dunkel,
und es war ein weiter und schlimmer Weg, den der Vater zu
reisen hatte. Die Mutter hatte gesagt, es konnten Räuber im
Walde sein und den armen Vater ausplündern. Er hätte sich
auch verirren können und in einen Sumpf geraten oder in ein
tiefes Wasser, wo er nicht wieder heraus konnte. Da dachte das
Kind: „Ach, wenn doch mein Vater wieder da wäre, wie froh
wollte ich sein!" Aber er kam noch nicht, und es wurde immer
Gabriel u. Supprian. Lesebuch. D. l. 1
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6
Das Kind gehorcht; doch ein geheimer Trieb
und das Verbot verschönerten die Schere.
„Ja," spricht es zu sich selbst,
„wenn es die Gabel wäre,
die hab' ich lange nicht so lieb,
so ließ ich sie mit Freuden liegen.
Allein die Scher' ist mein Vergnügen,
sie hat ein gar zu schönes Band.
Gesetzt, ich ritzte mich ein wenig in die Hand,
so hätte dies nicht viel zu sagen.
So klein ich bin, so hab' ich ja Verstand,
und also werd' ich's immer wagen,
sobald die Mutter nur die Augen weggewandt.
Doch nein, weil Kinder folgen müssen,
so wär' es ja nicht recht gethan.
Nein, nein, ich sehe dich bloß an;
o schöne Schere, laß dich küssen!
Ich rühre ja kein Messer an,
so werd' ich doch" —- schon griff es nach der Schere.
„Ja, wenn ich unvorsichtig wäre,
da freilich schnitte mich die Schere;
allein ich bin ja schon mit ihr bekannt."
So sprach's — und schnitt sich in die Hand.
Die Mutter kam. O welche harte Lehre!
„Ach," hub das Kind fußfällig an,
„es kränkt mich sehr, daß ich's gethan.
Ich bitte dich, zerbrich du doch die Schere,
damit ich sie nicht mehr begehre
und ohne Zwang gehorchen kann."
Im Brei ein einzig faules Ei
macht, daß man ihn nicht essen kann.
Beim Spiel ein einzig zänkisch Kind
verdirbt die ganze Lust daran.
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70
116. Regen, Regen!
(Hoffmann von Fallersleben.)
Regen, Regen,
Himmelssegen!
Bring uns Kühle, lösch den Staub
und erquicke Halm und Laub!
Regen, Regen,
Himmelssegen!
Labe meine Blümelein,
lass sie blühn im Sonnenschein!
Regen, Regen,
Himmelssegen!
Nimm dich auch des Bächleins an,
dass es wieder rauschen kann!
117. Der Regen.
- (Schmid.)
Ein Kaufmann ritt einst vom Jahrmarkt nach Hause
und hatte hinter sich ein Felleisen mit vielem Gelde auf-
gepackt. Es regnete heftig, und der gute Mann wurde
durch und durch nass. Darüber war er unzufrieden und
klagte sehr, dass Gott ihm ein so schlechtes Wetter zur
Reise gebe.
Sein Weg führte ihn durch einen dichten Wald. Hier
sah er mit Entsetzen einen Räuber stehen, der mit einer
Flinte auf ihn zielte und sie abdrückte. Er wäre ohne
Rettung verloren gewesen; allein von dem Regen war das
Pulver feucht geworden, und die Flinte — ging nicht los.
Der Kaufmann gab dem Pferde die Sporen und entkam
glücklich der Gefahr.
Als er in Sicherheit war, sprach er bei sich selbst:
„Was für ein Thor bin ich gewesen, dass ich das schlechte
Wetter verwünscht und es nicht als eine Schickung Gottes
geduldig angenommen habe. Wäre der Himmel heiter und
die Luft rein und trocken gewesen, so läge ich jetzt tot in
meinem Blute, und meine Kinder warteten vergebens aut
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82
Glieder waren starr; er wurde schläfrig, legte sich in den Schnee
auf sein Bündel und schlief ein.
Ein Postknecht ritt vorbei und sah ihn starr liegen; er be-
merkte jedoch einige Lebenszeichen an ihm, ritt schneller und zeigte
es unter dem Thore der benachbarten Stadt an. „Was hilft's?
Bis wir hinauskommen, ist er tot!" sagten die Unempfindlichen.
Ein armer Tagelöhner war aber auf der Wachstube, sich
zu wärmen; der hörte es, und ihm brach das Herz.
Ohne ein Wort zu sagen, ging er hinaus auf die Straße,
trug den erstarrten Handwerksburschen ins nächste Dorf, rieb ihn
mit Schnee, brachte ihn der Wärme immer näher und erweckte
ihn endlich wieder. Darauf nahm er ihn mit sich in die Stadt
und teilte sein Holz und seinen Tisch, ob er gleich selbst nicht
viel hatte, mit bcm Handwerksburschen so lange, bis derselbe im
stände war, weiter zu reisen.
134. Das Brot.
(Schmid.)
Zur Zeit der Teuerung ließ ein reicher Mann die zwanzig
ärmsten Kinder der Stadt in sein Haus kommen und sagte zu
ihnen: „In diesem Korbe da ist für jedes von euch ein Brot.
Nehmt es und kommt alle Tage zu dieser Stunde wieder, bis
Gott bessere Zeiten schickt."
Die Kinder fielen über den Korb her, stritten und zankten
um das Brot, weil jedes das schönste und größte haben wollte,
und gingen endlich fort — ohne nur zu danken.
Nur Franziska, ein ärmlich aber'reinlich gekleidetes Mädchen,
blieb bescheiden in der Ferne stehen, nahm das kleinste Brötchen,
das im Korbe blieb, küßte dem Manne dankbar die Hand und
ging dann still und sittsam nach Hause.
Am andern Tage waren die Kinder eben so ungezogen, und
die arme Franziska bekam dieses Mal ein Brötchen, das kaum
halb so groß war als die übrigen Brote. Als sie aber nach
Hause kam und ihre kranke Mutter das Brot anschnitt, — da
fielen eine Menge neuer Silberstücke heraus.
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Da nahte ein Wandrer, welcher den Unfall von weitem bemerkt hatte.
Sie rief ihm, und er eilte zur Hilfe herbei. Da er den Knaben nicht
sogleich bemerkte, fo wollte er sie erretten. Aber sie winkte und rief, er
sollte zuerst dem Brüderchen helfen. Der Mann sprang ins Wasser intb
brachte den Knaben glücklich ans Land. Da brach der Zweig, an welchem
das wackere Mädchen sich festhielt, und sie versank im Wasser. Mit
großer Mühe rettete der Mann auch sie; denn der liebe Gott wollte es
nicht zulassen, daß eine so liebevolle Schwester einen so frühen Tvd fände,
weil sie eher an das Brüderchen als an sich selbst gedacht hatte.
148. Das Lämmergeier-Anni.
(Dittmar.)
Anna Zurbnchen aus Habkern im Bernischen Oberlande, geboren
1760, wurde als dreijähriges Kind vvtl ihren Eltern, welche zur Arbeit
in das Feld gingen, mitgenommen. Da setzte der Vater das Kind nahe
bei einer Scheune nieder, und weil es bald daraus einschlummerte, bedeckte
er ihm das Gesicht mit einem Strohhut und ging seiner Arbeit nach. Als
er kurz nachher mit einem Henbunde beladen zurückkehrte, war das Kind
fort, und die Eltern und alle andern Thalbewohner suchten es überall
vergebens. Unterdes ging Heinrich Michel von Unterseen ans einem wilden
Pfade dem Wäppesbache nach, wo er zu seinem Erstaunen ein Kind
schreien hörte. Mit schnellen Schritten eilte er dem Schalle nach; da er-
hob sich, durch ihn aufgeschreckt, von einer kleinen Anhöhe ein Geieradler
und schwebte über den tiefen Abgrund hin. Am Rande dieses Abgrundes,
in dessen Tiefe der Bach wild dahinbraust, und in den jede Bewegung
das Kind hätte hinabstürzen können, fand nun Michel das Kind. Es hatte
keine andere Verwundung als am linken Arm und der Hand, woran es
wahrscheinlich gepackt worden war. Schuhe, Strümpfe und Käppchen
waren verloren. Dies geschah den 12. Juli 1766. Die Anhöhe, wo das
Kind gefunden wurde, ist von der Scheune, vor der es schlummerte, etwa
1400 Schritte entfernt. Das Kind hieß nun fortan das Lämmergeier-Anni.
149. Blindes Kind, ein armes Kind.
Blindes Kind, ein armes Kind!
Äuglein ihm verschlossen sind;
weiß nicht, wo es hin svll gehn,
kann den Weg, den Steg nicht sehn,
denn der Tag mit seiner Pracht
ist ihm dunkel, wie die Nacht.
Blindes Kind, ein armes Kind!
Sternlein, die am Himmel sind,
haben für sein Aug' kein Licht;
Mond und Sonne sieht es nicht,
und das Abendrot, so schön,
blindes Kind hat's nie gesehn.
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Extrahierte Personennamen: Gott Dittmar Anna_Zurbnchen Heinrich_Michel_von_Unterseen Heinrich Michel